Die Vielseitigkeit des Jacques Tardi
Annäherung an einen aussergewöhnlichen Comic-Künstler
Von Tobias Meinecke
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Jacques Tardi gehört wohl zu den außergewöhnlichsten Künstlern, die die französische Comic-Szene je hervorgebracht hat. Er erlangte besonders durch seinen plakativen, eindrucksvollen Zeichenstil aSs Illustrator von Szenaristen wie Christin, Picaret, Manchette, J.C, Forest oder Dominique Grange Bekanntheit, zeichnet sich jedoch auch durch seine Erzählfähigkeit aus, die die von ihm selbst getexteten Geschichten ebenfalls zu eindrucksvollen Kunstwerken macht. |
Wie
alle in den fünfziger und sechzigerjahrcn aufgewachsenen Franzosen
kam Tardi früh mit dem Comic in Kontakt und hatte sowohl TINTIN als
auch SPIROU fest abonniert. Besonders beeinflußt wurde er natürlich
durch den vorherrschenden Stil der damaligen Zeit, die sogenannte LIGNE
CLAIRE von Hergé Jacques Martin oder Edgar-Pierre Jacobs! Es wird
sich später zeigen, daß sein Werk eine der konsequentesten
Weiterentwicklungen genau dieses Stils ist, wobei er inhaltlich natürlich
ganz andere Maßstäbe setzt als die Zeichner der 50er-Jahre
in ihren Abenteuer-Comics für Kinder und Jugendliche. |
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Tardi zählte nie zu den guten Schülern und hatte schon mehr
oder weniger erfolgreich ein Dutzend Schulen besucht, als er die Gelegenheit
eines Umzuges seiner Familie nach Lyon nutzte, die Schule ganz aufzugeben,
um sich bei der ,Akademie der schönen Künste' einzuschreiben.
Hier Iernte er JEAN MICHEL NICOLLET kennen, mit dem er besonders in seiner
Frühzeit viel zusammenarbeitete und der auch heute noch ein guter
Freund von Tardi ist. 1966 schließlich verIäßt Tardi
Lyon, um sich an der ,Akademie der angewandten Künste' in Paris einzuschreiben.
Nach einigen mißglückten Veröffentlichungsversuchen beim
VERLAG LOSFELD bietet ihm 1970 das Magazin Pilote die grosse Chance, etwas
zu veröffentlichen, und er macht auch ein paar ganz gut ankommende
Seiten nach Szenarios von Charlier, De Beketch und Giraud. Sein Pech,
daß er kurz darauf zum Militärdienst einberufen wurde, und
somit bei PILOTE wieder in Vergessenheit geriet. |
1972 schuf er als Antwort auf seinen Militärdienst die im 1. Weltkrieg spielende antimilitaristische Geschichte UN EPISODE BANAL DE LA GUERRE, mit der er erfolgreich zu PILOTE zurückkehrte, und die auch in Deutschland in der COMIXENE 15 (leider schlecht gedruckt) erscheinen ist. Mit dieser Geschichte hat Tardi bewiesen, daß er sich zu einer emstzunehmenden Figur in der franzosischen Comic-Szene entwickelt hat und durchaus in der Lage ist, nicht nur hervorragend gezeichnete Werke abzugeben, sondern es auch vermag, spannende, engagierte und inhaltlich aussagekräftige Geschichten zu erzahlen. Und gerade diese Synthese macht ja erst ein Comic-Kunstwerk aus. Inzwischen zählt Tardi zu den wichtigsten zeitgenössischen Comic-Kunstlern überhaupt. Erwähnenswert aus seinem Lebenslauf sind vielleicht noch einige seiner vielen Reisen, die sein Werk beeinflußten. Neben Tramper-Touren durch Europa und Nordafrika sind es besonders drei USA-Reisen, die großen Einfluß auf ihn ausgeübt haben. Der von uns in dieser Ausgabe veröffentlichte Comic MANHATTAN entstand als Reaktion auf seine zweite New York-Reise und ist außerordentlich autobiografisch geprägt. |
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ZYKLUS DER
JAHRHUNDERTENDE
Sücht man nach einem Oberbegriff für all die Alben, die Tardi völlig
selbstständig (also auch Szenario) gestaltet hat, so fällt auf,
daß fast alle diese Werke in der Zeit der Jahrhundertwende bis hin zum
1. Weltkrieg und die sogenannten Goldenen Zwanziger angesiedelt sind. Im Mittelpunkt
dieser Werke steht die auch in Deutschland schon recht bekannte Serie LES
AVENTURES EXTRAORDINAIRES D'ADELE BLANC SEC, die im nächsten Jahr in
Deutsch beim Carlsen-Verlag erscheinen soll; aber auch die abenteuerIich-fantastische-Geschichte
des Lucien Brindavoine in ADIEU BRINDAVOINE oder die antimilitaristischen
Geschichten aus dem ersten Weltkrieg wie LA FLEUR AU FUSIL oder C'ETAIT LA
GUERRE DES TRANCHEES, die zur Zeit in (A SUIVRE) läuft, gehören
in diese stilistische: Einheit des ZYKLUS DER JAHRHUNDERTWENDE.
Die inzwischen sechs Geschichten um die unfreiwillige Dedektivin Adele Blanc-Sec
sind ein Paradebeispiel fur die qualitaliv hochwertige Unterhaltung, die ja
durchaus auch kommerziell sein darf, wenn sie dadurch nicht im Niveau abrutscht.
Adele ist eine Art weibliches Gegenstück zu Sherlok Holmes, das fantastisch
angchauchte Geschichten a la Edgar Allen Poe oder Roy Chandler erlebt. Es
sind die bewegten Jahre vor dem 1.Weltkrieg, und Tardi gelingtes überzeugend,
die Stimmung der damaligen Zeit einzufangen und auf den Leser zu übertragen.
Es ist eine zumeist düstere, spannungsgeladene Stimmung in einer sorgfältig
recherchierten und detailfreudig wiedergegebenen Welt. Der oben schon angedeutete
Einfluß, den Tardis Kindheitsjahre bei seinen Großeltern auf ihn
ausübten, zeigt sich am stärksten in der Serie um Adele Blanc-Sec.
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In derselben Serie zeigt
sich auch die Stilart der Comic-Kunst, die Tardi am meisten beeindruckt
und beeinflußt hat. Ganz bewußt entwirft Tardi die Serie
nach den Richtlinien der belgischen Schule um Herge und E.P.Jacobs,
verwendet nicht nur deren Zeichenstil LINGE CLAIRE sondern auch die
Grundidee vom Abenteuer und dessen erzählform. Und doch geht Tardi
weiter. Sein Held ist eine Frau, was im reinen Abenteuer- und Detektivcomic
ein Novum ist. Die Frau erfüllt nicht die bekannten Funktionen
als Dekoration und Sexsymbol, sondern sie zeichnet sich als Titelheld
vielmehr durch Spürsinn, Kombinationsgabe, Mut und Abenteuerlust
aus, was wir bisher doch nur von unseren männlichen Helden kannten.
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AUSSAGE
DER EMOTION Tardi legt den Schwerpunkt seiner pulitischcn und gesellschaftlichen Aussage in Werke, die ich im letzten Abschnitt nicht besprochen habe, die stilistisch aber ebenfalls in den ZYKLUS DERJAHRHUNDERTWENDE einzuordnen sind. Es sind die antimilitaristischen Erzählungen aus dem 1.Weltkrieg, in die Tardi seine ganze Erzählfähigkeit, Überzeugung und Aussagekraft gelegt hat. Es ist nicht die Rationalität des Pazifisten, die Tardis Werke in dieser Hinsicht so überzeugend macht, nein, man ist voller Emotionen fühlt was Taidi uns mitteilen will, man ist betroffen und erschüttert von den Begebenheiten, die Tardi in Geschichten wie LA VERITABLE HISTOIRE DU SOLDAT INCONNU oder UN EPISODE BANAL DE LA GUERRE schildert, Doch er zeigt Hoffnungsschimmer. Man atmet erleichtert auf, wenn Tardi in mitten des wahnsinnigen Chaos die individuelle Stärke und den Mut zur Vernunft des ebenfalls in den Krieg ziehenden Lucien Brindavoine zeigt, der voller Verzweiflung zwischen den Fronten umherirrt und schreit ,Macht dem WAHNSINN ein Ende!' und sich schließlich mil einigen Anderen zur Desertation entschließt und Freundschaft mit dem ebenfalls desertierten ,deutschen Erzfeind' Helmut schließt. Man ist deprimiert, stumm, verzweifelt, wenn dieser Helmut rücksichtslos von sogenannten Kameraden erschossen wird, brutal ein Ende findet, wenn die Realität, die alles umfassende Grausamkeit des Krieges, die Hoffnung einholt. |
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TARDI
UND DIE ANDEREN Ein großer Teil von Tardis Werk ist in Zusammenarbeit mit anderen Szenaristen entstanden, was auch nicht verwunderlich ist, da Tardi ja von der Bildenden Kunst zum Comic kam. Ich gehe nicht nur der Vollständigkeit halber auch auf diese Werke ein, da die Auswahl der Themen - Tardi hat es schon lange nicht mehr nötig jedes Szenario anzunehmen - und ihre dramaturgische Umsetzung auch etwas über den Künstler aussagt. Tardis bekanntestes Werk dieser Art ist wohl das in Zusammenarbeit mit J.C. FOREST entstandene ICI MÊME. Künstlerisch eindrucksvoll und überzeugend gestaltet, dramaturgisch gekonnt und liebevoll erzahlt, ist der große epische Roman um den heruntergekommenen Adeligen Arthur Même, dem von dem Besitz seiner Vorfahren nur noch die das Gut umgrenzende Mauer geblieben ist, auf welcher er lebt und arbeitet, und um dessen Leben und dessen Liebe zu dem Mädchen Jullie Maillard aus reichem Bürgerhaus nicht zuletzt deshalb so gelungen, weil Forest selbst auch Comics zeichnet, eine hervorragende Zusammenarbeit der beiden also möglich war. Tardis engagiertestes Werk eines anderen Szenaristen ist wohl das 1971 erschienene Märchen der Gegenwart RUMEURS SUR LE ROUERGUE, das er nach einem Szenario von Pierre Christin realisierte. In der für ihn typischen Art läßt Christin auch in dieser Geschichte, die von einer zu einem multinationalen Konzern gehorenden Mine handelt, in der es nach merkwürdigen Zwischenfällen zu Unruhen unter den Arbeitern kommt, Realität und Mystik zu einer aussagekräftigen Geschichte verschmelzen. Der von der Pariser Zentrale eingesetzte Direktor stößt bei seinen Nachforschungen auf seine wie ein König regierenden Vorgänger, der in einer halbverfallenen Ruine über ein Volk von Zwergen und Mutanten herrscht. Obwohl Tardis Grafik zu diesem Zeitpunkt noch nicht die heutige Qualität hatte, verdient dieses Werk dennoch Beachtung. Tardis unbedeutendstes Werk eines anderen Szenaristen ist wohl das 1977 erschienene Buch POLONIUS, das es inzwischen auch in Deutsch vom Volksverlag gibt. -Es ist das erste Szenario des am 13. April 1948 geborenen Picaret und erzählt die Geschichte des POLONIUS, der Dekadenz und Fall des Reiches RU miterlebt, ohne etwas dagegen untemehmen zu können. Seine Anstrengungen sich gegen Perversion und Unmenschlichkeit durchzusetzen scheitern jämmerlich. Auch wenn das Szenario zeitweise an Camus ' CALIGULA angelehnt zu sein scheint, läßt es doch dessen Dichte total vermissen und baut hauptsächlich auf Effekthascherei auf. Brilliant höchstens Tardis Grafik, die im Detail zwar nicht so hervorragend wie spätere Werke ist, in der Gesamtheit aber die Athmosphäre doch recht gut trifft. Tardis spannenste und lesenswerteste Werke anderer Szenaristen sind wohl seine Kriminalgeschichten GRIFFU (Szenario: Jean-Patrick Manchette) und BROUILLARD AU PONT DE TOLBIAC (Szenario: Leo Mallet), die erfrischend an das französische Kino erinnern. GRIFFU ist die spannende Geschichte eines heruntergekommenen Privatdetektives, der zwischen zwei vor nichts zurückschreckende Gruppierungen gerät und dabei zu Grunde geht. Die Geschichte ist voller erzählerischer Dichte und wunderbarer Charaktere-EntwickIungen. Zudem schafft Tardi eine Athmosphäre die einfuhlsam an den ,film-noire' der 50er-Jahre erinnert, was übrigens auch auf BROUILLARD AU PONT DE TOLBIAC zutrifft. Diese Geschichte erreicht ihre Spannung jedoch weniger durch die actionreiche Handlung als durch seltsame Begebenheiten, merkwürdige Zufälle, verdächtige Gestalten und ungeklärte Todesfälle. Eine Geschichte voller Suspense, fast wie bei Hitchcock. |
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WURDIGUNG
UND WIRKUNG
Tardi versteht es ausdrucksstarke Comics zu machen, das hat sich im Laufe dieser
Abhandlung immer wieder bestätigt. Er kann dabei neben seinem Erzählertalent
auf seine grafischen Fähigkeiten und einen ungeheuren Dramaturgiesinn zuriickgreifen.
In seinen eigenen Werken wird besonders deutlich, daß Tardi immer nach
einer überzeugenden Synthese aus Inhalt und Form sucht, und daß er
es inzwischen zu einem perfekten Zusammenspiel dieser beiden Aspekte gebracht
hat. Nie ordnet er einen der beiden Aspekte dem andem unter, immer ergänzt,
verstärkt, erläutert der eine den anderen. In seinen Werken mit anderen
Szenaristen fällt auf, daß ihm das mal besser, mal weniger gut gelingt,
was daran liegt, daß er mal besser, mai weniger gut mit dem betreffenden
Szenaristen zusammen arbeiten konnte. Je mehr ein Szenarist durch seine Vorgaben
den Spielraum von Tardi eingeschränkt hatte, desto weniger konnte Tardi
überzeugend auf die Geschichte einwirken. Im Gegensatz zu manch andrem
Zeichner ließ sich Tardi jedoch auch in seiner Frühzeit nie zum Illustrator
herabwürdigen, der dem Szenaristen nur dazu diente, Striche aufs Papier
zu bringen, die dieser aus handwerklicher Unkenntnis heraus nicht selber anfertigen
konnte. Schon damals wahrte er seine Eigenständigkeit, denn in der Eigenstandigkeit
des Zeichners liegen ja wesentliche dramaturgische Bestandteile. Schließlich
sollte ja auch beim Film der Kameramann kein Handwerker, sondem ein Augenmensch,
ein Künstler sein. Tardi ist ein Künstler, vielleicht einer der vielseitigsten
und reifesten der Comic-Szene.
Cet
article a été publié dans le magazine allemand "Comic
Art", numéro 5, pages 6-10, printemps 1982.